um formung

beschreibung
presse
 

 

 



Besetzung:
4 Perkussionisten, 4 Tänzerinnen
Werkdauer:
63'
Uraufführung:
30.04.2004, Köln, Domforum
gespielt von:
Schlagquartett Köln,
Chrystel Guillebeaud, Dulce Jiménez-Sedano,
Fernanda Bravo, I-Fen Lin,
Musik/Regie: Thomas Witzmann,
Choreographie: Rochus Aust
sonstiges:
Kompositionsauftrag MusikTriennale Köln 2004


 

Um Formung

Architektur-, Musik- und Tanz-Inszenierung
 

Das Thema dieser Inszenierung ist die Architektur des Domforums. Durch musikalische und theatralische Mittel wird diese faszinierende Räumlichkeit in ein neues Licht getaucht und so ihre verborgenen Qualitäten sinnlich anregend erfahrbar gemacht. 

Von außen eher unscheinbar bietet der Veranstaltungsraum von innen einen spektakulären Rundumblick über die Domplatte mit Dom, Hauptbahnhof und Kreuzblume. Über den Köpfen der Zuschauer erstreckt sich über die gesamten fünf Stockwerke bis hin zum Glasdach ein quadratischer, innen verglaster Lichthof, der im ersten Stock durch einen kreisrunden Einschnitt begrenzt wird. 

Zu Beginn der Aufführung werden die beiden Glasflächen in ihrer rautenförmigen Unterteilung mit passgenau geschnittenen Tüchern verhängt, die im folgenden von den Tänzerinnen einzeln oder segmentweise abgenommen werden und so den Blick ausschnittsweise wieder freigeben. Das Rondell des ersten Stock wird mit einer Folie ganzflächig bedeckt und erinnert so an eine überdimensionale Trommel. 

Während der Blick der Zuschauer zunächst eingeengt wird, entwickeln sich die Klänge von weit auseinander gelegenen Positionen (wie im Keller und unter dem Dach). Das Klangmaterial ergibt sich überwiegend durch perkussive Behandlung (schlagen, reiben, kratzen ...) von vorhandenen Raumbestandteilen, wie Fenster, Geländer, Türen etc.. Mit unterschiedlichsten Schlagwerkzeugen (Schlägel, Superbälle, Gewindestäbe u.a.) werden so der Architektur selbst die verschiedenartigsten Klänge entlockt.

Nach und nach wird das Geschehen nach außen verlagert bis die Domplatte das Szenario quasi als Bühnenbild für die Tanzaktionen ergibt. Die Passanten werden zum Teil der Performance oder als Beobachter zum Spiegelbild der innen sitzenden Zuschauer; die Glasflächen lassen sich deuten als semipermeable Membran zwischen innen und außen und akustisch als eine Art Trommelfell.  

Die Inszenierung im Rahmen des Alltags

Th.W. (2004)

 

 

 

Text aus dem Programmheft von Robert von Zahn

Die Membrane des Domforums
Gedanken über Thomas Witzmanns

Um Formung

 

Der Begriff „Membran“ leitet sich von der mittelhochdeutschen „Membrane“ ab, was Pergament bedeutet, oder auch von der lateinischen „membrana“, einem Häutchen. Es handelt sich um eine Trennschicht, eine dünne Haut, die in der Regel begrenzt durchlässig ist. Ist sie nur in eine Richtung durchlässig, sprechen wir von einer semipermeablen Membran. Ohne Membrane ist Leben kaum denkbar: Jede biologische Zelle ist von einer Membran umgeben. Sie bietet der Zelle Schutz und grenzt ihr inneres Milieu von der Umwelt ab. Die ersten Einzeller, die in der Lage waren, Membrane zu bilden, waren diejenigen, die in der Evolution überlebten. So verbinden wir mit Membra­nen in erster Linie eine Trenn- und Schutzfunktion. Ohne Mem­brane würden Zellinhalte zerfließen, informationstragende Mole­küle durch Diffusion verloren gehen und Stoffwechselwege einem thermischen Gleichgewicht zustreben. Das bedeutet den Tod für jedes lebende System. Mit Membranen verbinden wir aber auch den Wert der Durch­lässigkeit, sogar die Möglichkeit der Wahrnehmung. Eine Mem­bran kann uns zur Erzeugung, Verstärkung, Aufnahme, Dämp­fung oder Messung von Schwingungen dienen. Denn sie versetzt die angrenzende Luft in Schwingungen, wenn sie leicht und doch zugleich steif ist, etwa aus Papier oder dünnem Kunststoff. So ist die Membran ein wesentlicher Bestandteil der Wahrnehmung. Und die bewusste Wahrnehmung unserer Umgebung ist von größter Bedeutung. Ziehen wir uns in unseren individuellen Kos-mos zurück, verzichten wir also auf den Austausch mit der Außenwelt, zumal auf den kulturellen, bedeutet das den Tod unseres gesellschaftlichen Systems. Das wissen die Kulturschaffenden und unter ihnen allen voran die Architekten. Kaum eine Berufsgattung ist vom Übergang unse­rer Gesellschaft aus dem Industriezeitalter in das Informations­zeitalter mehr gefordert worden als sie. Räume entstehen für uns durch Böden, Wände und Decken, also durch die Abgrenzung von der Umwelt. Durch Abgrenzung werden sie zu homogenen Einheiten. Wenn die Abgrenzung verschwimmt oder verschwin­det, braucht der Raum ein Zentrum, von dem eine Wirkung aus­geht, Helligkeit, Klang oder Wärme. Dann empfinden wir ihn noch als Raum, obwohl er seine ursprüngliche Form verloren haben mag oder vielleicht auch nur in einen Prozess der Umformung eingetreten ist. Wie kann die Abgrenzung verschwimmen? Aufwändige bau­technische Maßnahmen können permanente Veränderungen der Hülle herbeiführen. Der geschickte Einsatz von Licht kann die Aufhebung suggerieren. Oder ein Architekt gestaltet die Abgren­zung von vornherein durchlässig. Das einfachste Mittel ist eine große Fensterfront. Geschieht alles zugleich, erleben wir eine Dynamisierung des Raumes, die unsere Wahrnehmung grund­sätzlich herausfordert. Seit den 1920er Jahren befinden sich Architekten auf diesem Weg. Berühmt wurde das Projekt von Le Corbusier und Iannis Xenakis, den Philips-Pavillon für die Welt­ausstellung Brüssel 1959 in dieser Weise zu konzipieren. Sie schufen eine Rauminszenierung im permanenten Fluss, eine elektronisch gesteuerte Architektur. Bauplanung und Prozess­komposition wurden zu Einem, als Le Corbusier erklärte, dass er mit dem Bau und seiner Inszenierung ein elektronisches Gedicht schaffen wolle. „Es wird sich alles im Inneren abspielen – Ton, Licht, Farbe und Rhythmus.“ Corbusier und Xenakis inszenierten ihren Bau mit Diaprojektoren, die durch rotierende Farbscheiben strahlten, mit farbigen Neon­lampen, beweglichen Spiegeln und Hunderten von Lautspre­chern. Die Vermischung von Bauplan, Regiekonzept, Storyboard und Partitur geschah bewusst, immerhin war die Übertragung von Techniken aus Theater, Film und Musik auf die Architektur bereits eingeführt: Schon am Bauhaus der 1920er Jahre experi­mentierten Moholy Nagy und Hirschfeld-Mack mit Raumgestal­tungen auf der Basis von Partituren. Ein solches Konzept hatte Architekt Fritz Schaller nicht im Sinn, als er sich Anfang der 1950er Jahre mit der Architektur eines Baus in der unmittelbaren Umgebung des Doms beschäftigte. Sein Vorhaben erforderte zunächst einmal reinen Pragmatismus: in der einigermaßen entschutteten Kölner Innenstadt nahe am Dom ein Gebäude der Bank für Gemeinwirtschaft zu entwerfen

– das gab ein strenges Gerüst von Parametern vor. Erstaunlich, was Schaller in dieser Situation von 1951 bis 1954 schuf: Die Bank wies architektonische Elemente auf, die die klassische „Begrenzung“ des Raums aufhoben, darunter auch die erwähn­ten großen Glasflächen. Allerdings ging Schaller einen Kompromiss ein: Die Glaswände reichten nicht bis zum Boden, sondern standen auf einem Stein­sockel. Und der Sockel schien die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt noch erheblich zu verhärten, ein Effekt, den Schaller in den Griff bekam, als er die Domplatte plante: Sie liegt höher als die vorherige Umgebung des Doms und tilgte so in einem Nebeneffekt den ungeliebten Sockel. Ohne eine bauliche Verän­derung am Gebäude vorzunehmen, reichen die Scheiben jetzt bis zur Bodenebene. Christian Schaller, Sohn von Fritz Schaller, arbeitete mit dieser Durchlässigkeit, als er in den 1990er Jahren beim Umbau der Bank zum Domforum hinzugezogen wurde. Die großen Glaswände, die sich nun vom Boden aus erheben und das Foyer des Domforums von der Domplatte „abtrennen“, sind durch ein rautenförmiges Netz engmaschig strukturiert. Obwohl ein Netz aus Rahmenelementen in verglasten Flächen eigentlich den Eindruck einer Trennung von der Außenwelt ver­stärkt, erzeugen die hier gewählten Rautenformen eher den Ein­druck von Durchlässigkeit. Die Rauten wirken wie eine Membran

– so hatte es Schaller beabsichtigt und so nutzt es Thomas Witz­mann. Mit der Wirkung einer Membran ist die traditionelle Trennung von Innen- und Außenraum durch eine Wand aufgehoben. Die Durch­lässigkeit einer vollständigen Wand für die visuelle und einge­schränkt auch für die akustische Wahrnehmung führt zu einem fließenden energetischen Raum. Sein Zentrum, das ihn als Raum begreifbar macht, kann durch eine Inszenierung geschaffen und auch wieder verändert werden. Mit dem Zentrum wird auch der Raum umgeformt und der Bau zu einem offenen System, das von uns weitaus mehr als gewohnt fordert. Im Idealfall denken wir nicht mehr in den Gegensätzen innen–außen oder gefüllt– leer, sondern in Kategorien der Bewegung und des Flusses. Dabei dient die Fassade als eine Art Raummodulator, der Bewegungen und Energieströme transformiert. Bewegungsrichtungen sind elementarer Teil von Thomas Witz­manns Komposition. Zu Beginn des Werks, wenn die Membran noch nicht permeabel ist, entsteht Klang auf allen Etagen des Forums. Bewegungen der Interpreten verbinden Innen- und Außenwelt. Sie erspielen sich das „draußen“, dafür rücken auf der Domplatte gefundene Bewegungen und Gesten nach „drinnen“. Gleichzeitig entstehen neue Zentren des Raums durch Witzmanns Inszenierung von Klangüberlagerungen, die aus der Architektur selbst durch Perkussion gewonnen werden. Iannis Xenakis bezeichnete solche Bewegung-Klang-Architektur-Kom-positionen als „Polytope“, ein Begriff, den man auch auf Witz­manns Um Formung anwenden könnte. „Polytop“ setzt sich aus den beiden altgriechischen Wörtern „poly“ für „viel“ und „topos“ für „Ort“ zusammen und bezeichnet Rauminszenierungen, bei denen sich Klang, Bewegung, Farbe und Architektur überlagern. Die Klangräume entstehen um verschiedene Gruppen von Instru­mentalisten herum. Beim Polytop de Montréal, den Xenakis 1966 vorstellte, waren es vier Orchester auf verschiedenen Etagen eines mehrgeschossigen Baus. 1975 diversifizierte Xenakis in seinem Werk Psappha Klang und Raum, in dem er einen langsamen Puls tiefer Töne gegen schnellere Pulse von mittleren und hohen Tönen einen Raum durchdringen ließ. Für die Einweihung des Centre Pompidou in Paris entstand 1978 ein multimedial bespieltes „Diatop“, dessen Außenhülle eine semipermeable Membran aus rotem Kunststoff bildete. Sie modulierte die sehende, hörende und riechende Wahrnehmung. Hinzu kam eine innere aktive Membran in Form eines Metallnetzes, an dessen Schnittpunkten Licht- und Schallquellen fixiert waren. Doch das Wesentliche war der Umstand, dass die äußere Hülle das Gebäude nicht mehr be­grenzte, sondern modulierte und die Wahrnehmung anregte. Witzmann hat sich des neuen Raumbegriffs der modernen Archi­tektur angenommen. In dem Konzept einer durch Kunst und Inszenierung gestützten Raumbildung setzt er einen eigenen Schwerpunkt, in dem er die Klänge vorwiegend aus dem Gebäude und im Dialog mit dem Gebäude gewinnt. Die Mem­bran des Domforums ist für ihn ein Gegenstand der Inszenierung, ein Instrument zur Schulung unserer Wahrnehmung und ein Mittel zur Verflüssigung des Raums. Witzmann arbeitet mit Architektur, seit sein Werk Ereignisfeld von 1991 im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte Raumelemente nutzte und sie zum Klingen brachte. Mit The 7th 7ense entwickelte er für die Glasgow School of Art im Jahre 2000 sein Konzept von Klang, Bewegung und Architektur wei­ter. Im Januar 2001 gab er ein „Haus-Konzert“ in der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Studenten der Architektur hatten dort die Aufgabe erhalten, einen Kammermu­siksaal zu entwerfen. Eigentlich sollte Witzmann ihnen dazu Grundlagen der Neuen Musik vermitteln. Doch als Ergebnis des Workshops entstand eine klingende Ausstellung der Architektur­modelle im Reiff-Foyer, bei der Witzmann die verschiedensten Teile des Baus mit „Zwischenmusiken“ bespielte. Im April 2001 zeigte die Hochschule die Modelle auch im Kölner Domforum, samt Witzmanns „Zwischenmusiken“. Aus dieser Präsentation entwickelte Thomas Witzmann in Gesprächen mit Monika Schae­fer (Domforum) und Hans-Joachim Wagner (MusikTriennale) die Projektidee der Um Formung des Domforums.

Das Projekt entspricht in etwa dem Begriff der „Verflüssigung des Raums“, den Philipp Oswalt 1997 in die Diskussion über eine zeitgerechte, dem Menschen und der Informationsgesellschaft zugewandte Architektur einbrachte (in: Thesis, Wissenschaftli­che Zeitung der Bauhaushochschule Weimar). In einem sol­cherart umgeformten Raum kristallisiert sich ein anderes Denken, ein nomadenhaftes Empfinden. Der Philosoph Vilém Flusser unterscheidet zwischen der Sesshaftigkeit, die durch unser Den-ken in festen Kategorien und Begriffen gegeben ist, und dem Nomadentum, das durch ein Denken in Beziehungen und Rela­tionen geprägt ist. Auf die Architektur übertragen, entspricht die konstruktive Raumbildung dem Denken in festen Kategorien, das fließende Raumempfinden hingegen dem Denken in Relationen. Die Philosophen Gilles Deleuze and Felix Guattari unterscheiden in ihrer Abhandlung Mille Plateaux zwischen dem glatten fließen­den Raum, der so wenig fassbar ist wie die Wüste, und dem gekerbten Raum, einer in Acker gegliederten Landschaft, in der alles messbar, abgezirkelt und definiert ist. Folgen wir ihrer Unter­scheidung, erkennen wir, dass sich Witzmann eindeutig für den fließenden Raum entschieden hat, wenn er die Tänzerinnen in der Choreographie Rochus Austs durch einen Kunstgriff die Archi­tektur des Domforums hin zur Domplatte zerdehnen lässt. Der Raum von Um Formung ist in seinem Wesen nomadisch. Er kor­respondiert mit dem nomadischen Charakter unserer Informa­tionsgesellschaft, die durch Globalisierung, Mobilität, Kommuni­kation und Vernetzung geprägt ist.

                                                                                                                                                                                                                             Robert v. Zahn